Der Nomakkusativ

Begonnen von Wortklauber, 2013-12-14, 17:03:59

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Wortklauber

Anlässlich meiner eigenen Verse:

Zitat von: Wortklauber in 2013-12-13, 18:32:43
Erdrückende Mehrheit

Wenn einst eine Mehrheit sich glaubend vernetzt,
Auf unserer Erde die Berge versetzt,
Verrückt, aber ehrlich! Dann wird man belieben
Zu nennen ,,erdrückende Mehrheit", die schieben.

frug ich mich a post-eriori (bzw. post posten), ob es sich bei "Man beliebt, die schieben, 'erdrückende Mehrheit' zu nennen" eigelnt um eine erlubene Satzkonstruktion handele oder um eine echte, allenfalls in der Dichtung verzeihliche Ellipse eines eigelnt erforderlichen Demonstrativpronomens. Dass der Satz leichter verstalnd wäre, wenn man es nicht fortließe, steht allerdings außer Frage: "Man beliebt, die(jenigen), die schieben, 'erdrückende Mehrheit' zu nennen."

Bei der Suche nach vergleichbaren Beispielen ging mir ein ganz anderes Problem auf. Meines Erachtens sind folgende vier Sätze vollkommen akzeptabel:

1. Was auf den Tisch kommt, wird gegessen.
2. Was auf den Tisch kommt, esse ich.
3. Was ich esse, kommt nicht noch einmal auf den Tisch.
4. Was ich esse, kannst du nicht noch einmal auf den Tisch bringen.

Versetzen wir uns nun aber in die Situation von Menschenfressern (oder besser gesagt von zivilisierten Menschenessern, die ihre Mahlzeit am Tisch einnehmen), funktionieren von obigen Sätzen plötzlich nur noch zwei:

5. Wer auf den Tisch kommt, wird gegessen.
6. Wer auf den Tisch kommt, esse ich.
7. Wen ich esse, kommt nicht noch einmal auf den Tisch.
8. Wen ich esse, kannst du nicht noch einmal auf den Tisch bringen.

Am Vergleich von 5 mit 6 und 7 mit 8 kann man sehen, dass es offensilcht auf den Fall ankommt, in dem das Relativpronomen im Relativsatz steht, ob der Relativsatz die Subjekt- bzw. Objektposition im Hauptsatz vertreten kann. In den Fällen 6 und 7 kann die mangelnde Übereinstimmung nur durch die Einfügung eines Demonstrativpronomens gehielen werden:

6a. Wer auf den Tisch kommt, den esse ich.
7a. Wen ich esse, der kommt nicht noch einmal auf den Tisch.

Dass es dabei nicht nur auf die zufällige klangliche Übereinstimmung ankommt, sieht man daran, dass das Wort "wer" bzw. "wen" gar nicht als Subjekt bzw. Objekt des Hauptsatzes eingesotzen werden kann. Demnach kommt es also wirklich auf die Übereinstimmung des Falles, d.h. der grammatischen Funktion an.

Das bedeutet nun aber umgekohren, dass in den Fällen 2. und 3. die grammatische Funktion im Relativsatz und Hauptsatz übereinstimmen muss, denn andernfalls reöre unser Sprachgefühl gegen diese Sätze Volt. Das heißt also, dass die sächliche Deklination neben dem Genitiv und Dativ gar nicht zwei verschiedene Fälle, Nominativ und Akkusativ kennt, sondern nur einen einzigen Fall, der zwischen der Subjektfunktion und der Objektfunktion nicht differenziert. Ich möchte diesen Fall Nomakkusativ nennen. Das gilt auch für weibliche Wörter:

9. Die gestern auf den Tisch kam, hat nicht geschmeckt.
10. Die ich gegessen habe, hat nicht geschmeckt.
11. Die gestern auf den Tisch kam, können wir nicht noch einmal essen.
12. Die ich gegessen habe, können wir nicht noch einmal essen.

Diese zivilierten Menschenesser geben ein wenig Vertrauen in die Satzkonstruktion der oben zitierten Verse.

Wortklauber

Zu ergänzen wäre noch, dass es im Plural unabhängig von dem Genus nur den Nomakkusativ gibt:

13. Welche ihr gefielen, waren zu teuer.
14. Welche ihr gefielen, kaufte sie sofort.
15. Welche sie haben wollte, waren zu teuer.
16. Welche sie haben wollte, kaufte sie sofort.

Die Differenzur zwischen Nominativ und Akkusativ, und zwar nicht nur der Form nach, sondern auch nach der grammatischen Funktion, wäre also in der deutschen Sprache eine Spezialität des Maskulinum Singularis.

Kilian

Durchaus überzeugend. Ich will nur etwas Hintergrund ergänzen: Diese Beispielsätze, die die seltene Eigenschaft haben, dass ein Pronomen logischerweise zwei Kasus gleichzeitig haben müsste, heißen freie (oder kopflose) Relativsätze, und sind Pronominalsätze, die als Subjektsätze oder Objektsätze fungieren. Da kriegt das einleitende Pronomen nämlich sowohl vom Verb im Nebensatz einen Kasus zugewiesen als auch vom Verb im Hauptsatz (bzw. allgemeiner: im Matrixsatz). Diese letztere Zuweisung ist aber zum Glück für die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten nicht immer zwingend, es gibt da anscheinend eine Kasushierarchie ala Dativ/Präposition schlägt Akkusativ schlägt Nominativ. Hierzu empfehle ich einen Aufsatz von Karin Kipper (insbesondere die ersten 1½ Seiten): Freie Relativsätze und die Kasushierarchie.

Wortklauber

Zitat von: Kilian in 2013-12-14, 21:09:45
Durchaus überzeugend. Ich will nur etwas Hintergrund ergänzen: Diese Beispielsätze, die die seltene Eigenschaft haben, dass ein Pronomen logischerweise zwei Kasus gleichzeitig haben müsste, heißen freie (oder kopflose) Relativsätze, und sind Pronominalsätze, die als Subjektsätze oder Objektsätze fungieren. Da kriegt das einleitende Pronomen nämlich sowohl vom Verb im Nebensatz einen Kasus zugewiesen als auch vom Verb im Hauptsatz (bzw. allgemeiner: im Matrixsatz). Diese letztere Zuweisung ist aber zum Glück für die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten nicht immer zwingend, es gibt da anscheinend eine Kasushierarchie ala Dativ/Präposition schlägt Akkusativ schlägt Nominativ. Hierzu empfehle ich einen Aufsatz von Karin Kipper (insbesondere die ersten 1½ Seiten): Freie Relativsätze und die Kasushierarchie.

Ja, ein interessanter Text. Aber die Kasushierarchie scheint mir, mindestens wenn man sie als formale Beziehung zwischen grammatischen Fällen begreift, nicht alles zu erklären. Andernfalls müsste mein Beispiel Nummer 7
a) Wen ich esse, kommt nicht noch einmal auf den Tisch.
ebenso möglich sein wie das in dem Text genannte Beispiel
b) Wen es zum Lehrerberuf hinzieht, bevorzugt eher die geisteswissenschaftlich en und philologischen Fächer.
und das scheint mir gerade nicht der Fall zu sein. Oder gibt es hierzu abweichende Meinungen? Ich vermute, dass b) nur deshalb durchgeht, weil der Relativsatz nur ein formales Subjekt (es), aber kein echtes hat, während die im Akkusativ genannte Person subjektiv vom Satzgehalt betroffen ist und daher als sinngemäßes Subjekt verstanden werden kann. Auch die in dem Text genannten Beispiele mit Dativ haben meistens nur ein formales Subjekt, während die von dem Inhalt "betroffene" Person als sinngemäßes Subjekt im Dativ steht. Auch in dem einzigen Fall, in dem der mit "wem" eingeleitete Satz ein echtes Subjekt hat
c) Wem die ätherischen Öle zu scharf sind, greift zu der leicht salzig schmeckenden Solezahnpasta.
macht der Satz über dieses Subjekt keine Aussage, da das "scharf sein" ja eine subjektive Empfindung der im Dativ genannten Person ist. Daher steht auch hier das inhaltliche Subjekt des Relativsatzes mit dem des Hauptsatzes in Kongruenz. Völlig unmöglich wäre meiner Meinung nach hingegen:
d) Wem du ein Geschenk machst, freut sich.
während der folgende Satz
e) Wem ein Geschenk gemacht wird, freut sich.
in dem kein echtes Subjekt mit dem Dativ kollidiert, gerade noch akzeptabel sein könnte. Aber mir sträuben sich doch irgendwo die Haare, wenn ich das lese. Es liegt wohl daran, dass hier auch die subjektive Betroffenheit gegenüber dem objektiven Vorgang in den Hintergrund tritt.

Aber je länger ich hier Beispiele konstruiere, desto weniger fühle ich mich in der Lage, das sprachlich Mögliche vom Unmöglichen zu scheiden. Höchste Zeit, Schluss zu machen.

Berthold

Zitat von: Wortklauber in 2013-12-15, 07:18:13
d) Wem du ein Geschenk machst, freut sich.
während der folgende Satz
e) Wem ein Geschenk gemacht wird, freut sich.
in dem kein echtes Subjekt mit dem Dativ kollidiert, gerade noch akzeptabel sein könnte. Aber mir sträuben sich doch irgendwo die Haare, wenn ich das lese. Es liegt wohl daran, dass hier auch die subjektive Betroffenheit gegenüber dem objektiven Vorgang in den Hintergrund tritt.

Ich schrüge da halt - und griffe den Beschonknen nochmals auf:
d) Wem du ein Geschenk machst, der freut sich.
(Dialekt: Weem(b)sd woos sch(a)enggsd, dea gfraed si.)
e) Wem ein Geschenk gemacht wird, der freut sich.

Wortklauber

Ohne Zweifel täte ich das auch so. Nur trägt dieser Vorschlag zur Diskussion nichts bei, da es ja gerade um die Frage geht, wann dieses Nochmals-Auf-Greifen entfallen kann. (Siehe Punkt 6a und 7a in dem ersten Beitrag.)

Berthold

#6
Zitat von: Wortklauber in 2013-12-17, 11:40:55
Ohne Zweifel täte ich das auch so. Nur trägt dieser Vorschlag zur Diskussion nichts bei, da es ja gerade um die Frage geht, wann dieses Nochmals-Auf-Greifen entfallen kann. (Siehe Punkt 6a und 7a in dem ersten Beitrag.)

Huch! - Uns'rer Schwalbe gleich, die Herbstens nach wärmern Himmeln sucht, muß ich das überflonck haben. - Das, was ich oft genug anderen vorwerfe ... Unsinn wäre es ferner, anzunehmen, daß Du auf sowas nicht selber draufgekommen wärst.
Dafür darf ich jetzt eine Strophe Friedrich Rückerts zitieren:
"Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt
dir zurück, wonach du weinst;
Doch die Schwalbe singt, doch die Schwalbe singt
im Dorf wie einst"